Simon Libsig schöpft die Ideen für seine Geschichten aus dem Alltag. Bild: Martina Kleinsorg
12.01.2024 06:00
«Wenn man nur ein Gefühl anspricht, funktioniert es nicht»
«Geschichten mit Nebenwirkungen» erzählt Slam-Poet Simon Libsig in seiner «Sprechstunde» am 19. Januar in der Mühle Otelfingen. Vorab gewährte der Badener Autor einen Einblick in sein künstlerisches Werden und Wirken.¶
Baden/Otelfingen. Manchmal, so verrät Simon Libsig auf Instagram, fragten ihn die Leute, womit er sein Geld verdiene. «Ich bin Geschichtenerzähler», sage er dann. Der Unterschied zwischen ihm und einem Zahnarzt? «Ich sollte den Nerv treffen.» Dies dürfte dem Badener auch am kommenden Freitag gelingen, wenn er das Publikum zu «Libsigs Sprechstunde» in die Mühle Otelfingen bittet. Wie bei einem der gefragtesten Spoken Word-Künstler der Schweiz zu erwarten, handelt es sich dabei nicht um einen medizinischen Ratgeber, sondern um «einen Abend mit Nebenwirkungen – für Hirn, Herz und Zwerchfell», wie der Untertitel verrät.Dafür genügen Simon Libsig Mikro, Text und Stimme, das Programm ist an diesem Abend nicht fix: «Ich weiss, ich muss die Leute unterhalten – dafür eine Carte Blanche zu haben, geniesse ich extrem.» Er wähle zwei, drei Geschichten für den Einstieg aus, danach könne eigentlich alles passieren, die Stimmung entscheide, die Reaktionen des Publikums. «Ich habe meine Stories dabei, vieles im Kopf gespeichert, und einiges natürlich auf Papier.» Gerne starte er mit «Pharma Unser», das er auf die morgendliche Frage «Wie geht es dir heute?» nach einem Blick in Badezimmerschrank runterbete – und der Journalistin auf Nachfrage sogleich eine Kostprobe bringt, wobei er die Namen rund 60 wohlbekannter Medikamente rhythmisch-reimend verbindet. Wichtig sind Libsig die «Nebenwirkungen», die er mit seinen Geschichten erzielt: «Wenn man nur ein Gefühl anspricht, funktioniert es nicht», ist der 46-Jährige überzeugt. Allein auf Lacher aus zu sein, erschöpfe sich nach dem dritten Text. «Laut, leise, lustig, traurig, nachdenklich, berührend», umschreibt er die Palette. Wie die Herzschlag-Linie im EKG brauche es Ausschläge nach oben und unten. Über 1000 Live-Auftritte, elf Bühnenprogramme, über 100 Kolumnen, drei Romane, vier Kinderbücher, acht CDs und mehr als 300 Story-Workshops mit Kindern und Erwachsenen – auf seiner Website präsentiert der Gewinner des Swiss Comedy Award (Publikumspreis) eine beeindruckende Bilanz. «Eigentlich wollte ich Arzt werden», nennt Simon Libsig einen Bubentraum. Wie der Vater, mit Praxis im Ennetbadener Elternhaus, lief er als Primarschüler stets weissgekleidet herum, mit Grasflecken vom Fussballplatz. Studiert hat er schliesslich Politologie in Zürich und Paris, inspiriert vom Grossvater im diplomatischen Dienst, und liess sich beim Schweizer Rundfunk zum Radio-Journalisten ausbilden. Gelernt habe er dort «Kino für die Ohren» zu machen, doch der Radioalltag sei von schnellen «News» geprägt und liesse keine Zeit für die Art von Geschichten, die er erzählen wolle.
Vom Neuling zur festen Grösse
Lange schrieb Libsig nur für sich: Auf der Rückseite von Gratiskarten formulierte er vor dem Schlafengehen Vierzeiler, Gedichte und Kurzgeschichten, «Postkarten-Gedanken» passend zum Motiv. «Ich dachte, daraus würde mein erstes Buch, dabei traute ich mich kaum, sie jemand anderen zu zeigen.» Fasziniert erlebte er an der Poetry Slam-Meisterschaft in Bern 2002, wie junge Leute auf der Bühne mit selbstverfassten Texten antraten, und wusste: «Das will ich auch». Kurz darauf organisierte in einem Keller am Badener Cordulaplatz den ersten Aargauer Poetry Slam und ging hinter dem Zürcher Texter und Sänger Boni Koller als Zweiter hervor. Etrit Hasler, der als einer der Pioniere der Schweizer Slam Poetry den Abend moderierte, schlug Libsig vor, den Substanz Poetry Slam in München gemeinsam zu bestreiten – um dann am Bahnhof Zürich gar nicht erst aufzutauchen. Libsig entschied den internationalen Wettkampf vor 500 Leuten mit zwei Texten für sich und wurde in der damals noch kleinen Szene zur festen Grösse. Parallel zum Radio bestritt er diverse Slams, doch «als Gewinner bekommst du eine Flasche Whiskey, Geld kann man damit nicht Geld verdienen», beschreibt er das Dilemma. Bis ihn jemand aus dem Publikum für ein Firmenjubiläum anfragte: «Das erste Mal, wo mich jemand für das Geschichtenvorlesen gebucht und bezahlt hat.» Bald ergab sich aus jedem Auftritt ein weiteres einträgliches Engagement.Die positive Entwicklung ermutigte ihn, sich 2008 als Autor und Slam-Poet selbständig zu machen. Eine negative Erfahrung gab den letzten Anstoss dafür: Nach dem Radio heuerte er bei einer Ideenfabrik an und litt unter dem Druck der Fremdbestimmung. «Ich entschied mich, alles auf eine Karte zu setzen, auch auf die Gefahr des Scheiterns.» Der Zufall verhalf ihm zu einem kleinem Büro im begehrten Badener Merker Areal, bis heute seine offizielle Adresse. «Ich bin ein Vagabund und immer dort, wo es fliesst», sagt Libsig von sich selbst. Mal brauche er völlige Ruhe zum Schreiben, dann wieder geniesse er das Leben um sich herum und arbeite im Café oder in der Bibliothek in seinem «Eckli». Die Ideen für seine Geschichten schöpft Simon Libsig aus dem Alltag: «Ich nehme ein Häppchen und koche es auf mit Fantasie.» Dann klinge zwar manches «schon etwas krass» und könnte doch so passiert sein. «Erfunden, aber wahr», so der Titel zweier CDs, gelte eigentlich für alle seine Texte. Er suche bei allen Themen zunächst nach Ansatzpunkten in seiner Welt – nur wenn er selbst einen Bezug zur Geschichte habe, könne er das Publikum berühren. Sein Stil sei nicht, andere runterzumachen, er setze stets auf das Verbindende: «Mein Humor ist eher fein, nicht fies – vielleicht bin ich darum nicht im Fernsehen.»
«Ein Text wächst am Publikum»
Viele seiner Texte reimen sich, aber längst nicht alle. «Mittlerweile finde ich es cooler, wenn ich ganz natürlich rede – und dann reimt es sich auch noch.» Kolumnen, die Simon Libsig für das «Badener Tageblatt» schreibt, und darin oft auch das Familienleben mit zwei Söhnen verarbeitet, gibt er vorab seiner Frau zu lesen: «Wenn sie lacht, ist es gut», laute das Kriterium. Für Bühnenauftritte gelte: «Ein Text wächst am Publikum. Vor allem das Timing ist wichtig, daran lässt sich immer feilen.» So darf man in der Mühle Otelfingen ein gut geschliffenes «Best of» des Wortzauberers erwarten, ganz nach Gusto mit neuen poetischen Perlen gespickt.Weitere Infos und Tickets unter simon-libsig.ch und muehleotelfingen.ch
Martina Kleinsorg